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ISEK - Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft Ethnologie

ZANTHRO Comments Nr. 10

Was, wenn Endometriose eine Männerkrankheit wäre?

Im Rahmen meiner Bachelorarbeit befasste ich mich anhand des Beispiels Endometriose mit genderbasierter Diskriminierung in der westlichen Medizin. Durch die filmische Inszenierung von Endometriose als fiktiver Männerkrankheit wird die Diskriminierung deutlich gemacht. Mit meiner Bachelorarbeit will ich einen Beitrag zur Aufklärungsarbeit leisten und Forderungen stellen. Der Mehrwert einer filmischen Auseinandersetzung mit dem Thema liegt in der Zugänglichkeit des Mediums. Das visuelle und auditive Medium Film ermöglicht einen emotionaleren und direkten Zugang und kann Personen ausserhalb des Wissenschaftskreises erreichen.

Mittels einer anonymen Online Umfrage sammelte ich Erfahrungsberichte von 80 Endometriosebetroffenen. Um die genderbasierte Diskriminierung im Film fassbar zu machen, wurde eine repräsentative Auswahl dieser Berichte von Männern so vorgetragen, als wären es ihre eigenen Geschichten. Das Publikum wird dabei im Glauben gelassen, dass die Darsteller tatsächlich unter der von ihnen beschriebenen Krankheit leiden. Gegen Ende des Filmes wird die Situation sukzessive aufgelöst indem zunehmend Erfahrungen Erwähnung finden, die offensichtlich nicht mehr cis-Männern zugeordnet werden können. Zugleich zeigt sich diese Diskrepanz in den persönlichen Reaktionen der Darsteller auf den von ihnen vorgetragenen Text. Diese Reaktionen sind beabsichtigt und resultieren aus der Entscheidung, dass die Darsteller die Erfahrungsberichte vor laufender Kamera zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Endometriosebetroffene kommen im Film nur indirekt zu Wort: Ihre Geschichten werden erzählt, aber sie selbst sind vor der Kamera nicht sichtbar. Die medizinische und gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Krankheit wird durch die Absenz der Betroffenen deutlich und die Betroffen bleiben anonym.

Fotograf*innen: Tren Guerrero und Katja Stirnemann
Behind the Scenes: Der Proberaum einer Theatergruppe wurde für den Dreh als Filmstudio eingerichtet. (Foto: Tren Guerrero und Katja Stirnemann)

Die Verknüpfung der empirisch erhobenen Erfahrungsberichte mit einer sozialwissenschaftlichen Literaturanalyse zu genderbasierter Diskriminierung in der westlichen Medizin ermöglichte es, diese Berichte in einen historischen Kontext einzuordnen.
Als Basis meiner Arbeit diente der theoretische Ansatz der Ignorance Studies (siehe auch Hudson 2021). Gemäss dieses Ansatzes ist die Forschungsförderung an die Interessen gewisser privilegierter Gruppen gebunden (Frickel et al. 2010, 446). In einem patriarchalen System werden die Interessen von cis-Männern als Norm perpetuiert (Wiedemann 2021, 15) und Interessen von Frauen weniger priorisiert. Dies hat eine geringere Forschungsfinanzierung von frauenspezifischen Krankheiten zur Folge. So orientierte sich die westliche Medizin in den vergangenen Jahrzehnten am Profil eines weissen, 70 Kilogramm schweren cis-Mannes (Dusenbery 2018, 3). Dieser systematische Ausschlusse von Frauen aus medizinischen Studien (Yut-Lin 2009, 362) führte zu einem bis heute anhaltenden Mangel an Wissen über Frauenkrankheiten. Diesen Wissensmangel beschreibt die Autorin Maya Dusenbery (2018) als Knowledge Gap.
Die eigenständige Entwicklung von Alltagsbewältigungsstrategien kann als notwendige Reaktion auf den aktuellen unzureichenden Wissens- und Forschungsstand identifiziert werden. Wenn weder die Medizin noch die Politik zufriedenstellende Lösungen im Umgang mit Frauenkrankheiten bieten, müssen sich die Betroffenen gezwungenermassen selbstständig Wissen aneignen und proaktive Patientinnen werden (Seear 2014, 138).
Die Erfahrungsberichte aus der Online-Umfrage bestätigen dies: 99% der Befragten müssen auf selbstständig angeeignete Strategien zurückgreifen, um den Alltag mit Endometriose bewältigen zu können. Diese Strategien decken eine grosse Bandreite an Lebensbereichen ab: 21% der Befragten sind auf eine Ernährungsumstellung angewiesen, 46% greifen im Alltag zu Schmerzmedikamenten und 15% sind auf Therapien wie Schmerz- und/oder Psychotherapie angewiesen. 13% planen ihren Alltag nach ihrem Zyklus, was mehrfach eine berufliche Umorientierung bedingte. 49% der Befragten nehmen zur präventiven Symptomlinderung ein hormonelles Präparat ein, was oftmals mit einer negativen Konnotation geschildert wurde.
Basierend auf dem theoretischen Ansatz der Ignorance Studies betrachte ich die Notwendigkeit der selbstständigen Entwicklung von Alltagsstrategien als Folgeresultat genderbasierter Diskriminierung.

Die Regieassistentin schlägt die Klappe, die Filmcrew ist bereit für die nächste Aufnahme. (Foto: Tren Guerrero und Katja Stirnemann)

Als weiteres Resultat genderbasierter Diskriminierung identifiziert Maya Dusenbery den sogenannten Trust Gap. Dieser beschreibt das fehlende Vertrauen, welches die medizinische Fachschaft und die Gesellschaft Frauen bei der Einschätzung ihrer eigenen Gesundheit entgegenbringen. Wenn Frauen von Schmerzen berichten, werden diese häufiger auf psychologische oder emotionale Gründe zurückgeführt (Jackson 2021, 15; Cleghorn 2022, 3), als dies bei Männern der Fall ist. Das ist auf die jahrhundertealte Geschichte der weiblichen Hysterie zurückzuführen, deren Anfänge im antiken Griechenland liegen. Damals entstand die Diagnose Hysterie als Erklärung für jegliche gesundheitlichen Beschwerden von Frauen. Als Auslöser für Hysterie (und somit als Ursache für Frauenkrankheiten) galt lange Zeit die Gebärmutter, welche der Diagnose auch ihren Namen gab: ‘Hystera’ ist griechisch für ‘Gebärmutter’ (Krasny 2020, 128; Jackson 2021, 85). Später, im 19. Jahrhundert wurde nicht länger die Gebärmutter als Ursprung der Hysterie begriffen, sondern das Nervensystem (Jackson 2021, 91; Cleghorn 2022, 130). Fortan galten die angeblich übermässigen Emotionen und die psychische Verfassung von Frauen als Auslöser für deren Krankheiten (Cleghorn 2022, 111). Bis 1980 war Hysterie eine offizielle Diagnose für psychische Erkrankungen (Mirin 2020, 2). Heute erkennt die Medizin in Beschwerden, welche lange als Symptome der Hysterie abgetan wurden, Krankheiten wie Epilepsie, Multiple Sklerose und Endometriose an (Cleghorn 2022, 117). Dennoch hallt das diskriminierende Narrativ der weiblichen Hysterie im heutigen Umgang mit Frauenkrankheiten nach (Dusenbery 2018, 11). Die Erfahrungsberichte der 80 Endometriosebetroffenen machen dies deutlich: 83% der Befragten gaben an, dass ihre Beschwerden von Fachpersonen und Menschen aus ihrem Umfeld nicht ernst genommen wurden. Stattdessen wurden die Beschwerden mit psychischen Krankheitsbildern erklärt oder gar als Einbildung der Patientin abgestempelt. Diagnosen und Behandlungen werden dadurch verzögert oder gar verunmöglicht (Beck 2021).

Die Regisseurin Lynn Kohli während der Dreharbeiten. (Foto: Tren Guerrero und Katja Stirnemann)

Durch die Kontextualisierung der empirisch erhobenen Erfahrungsberichte von Endometriosebetroffenen mit einer Literaturanalyse zu genderbasierter Diskriminierung in der westlichen Medizin werden historische Zusammenhänge sichtbar. Indem der Fokus auf die strukturelle Ebene gelegt wird, erscheinen die Erfahrungsberichte nicht länger als individuelle Schicksalsschläge. Viel eher können sie als Resultat einer strukturellen, historisch gewachsenen Diskriminierung betrachtet werden.
Um mit einem Zitat aus der Online-Umfrage abzuschliessen: «Es braucht bessere Forschung. Wenn Endometriose eine Männerkrankheit wäre, hätte man schon lange eine effektivere Behandlung beziehungsweise Heilung dafür gefunden.»

Darsteller
Die Darsteller bekamen die Erfahrungsberichte vor laufender Kamera zum ersten Mal zu Gesicht. (Foto: Tren Guerrero und Katja Stirnemann)

Anmerkung: In diesem Beitrag konzentrierte ich mich auf genderbasierte Diskriminierung im Sinne einer patriarchal geprägten Binarität der Kategorien Mann und Frau. Intersektionale Diskriminierungsformen gezielt zu untersuchen hätte den Rahmen dieses Beitrags gesprengt. Es sei aber angemerkt, dass deren Einfluss auf den Umgang mit sogenannten «Frauenkrankheiten» unbestreitbar ist.

 

Bibliographie

Beck, Ronja. Republik AG. 2021. «Kommt eine Frau zum Arzt.» 2021. Zugriff am 11.07.2022.
https://www.republik.ch/2021/12/17/kommt-eine-frau-zum-arzt.

Cleghorn, Elinor. 2022. Unwell Women: A Journey Through Medicine and Myth in a Man-Made World. London: Orion Publishing Group.

Dusenbery, Maya. 2018. Doing Harm: The Truth About How Bad Medicine and Lazy Science Leave Women Dismissed, Misdiagnosed, and Sick. New York: HarperOne.

Frickel, Scott, Sahra Gibbon, Jeff Howard, Joanna Kempner, Gwen Ottinger, and David J. Hess. 2010. «Undone Science: Charting Social Movement and Civil Society Challenges to Research Agenda Setting.» Science, Technology, & Human Values 35(4): 444–473.

Hudson, Nicky. 2021. «The missed disease? Endometriosis as an example of 'undone science'.» Reproductive Biomedicine & Society Online 14():20-27.

Jackson, Gabrielle. 2021. Pain and Prejudice: A call to arms for women and their bodies. Vancouver/Berkeley: Greystone Books.

Krasny, Elke. 2020. «Hysteria Activism: Feminist Collectives for the Twenty-First Century.» In Performing Hysteria: Images and Imaginations of Hysteria, hrg. von Johanna Braun, 125-146. Leuven: Leuven University Press.

Mirin, Arthur A. 2020. «Gender Disparity in the Funding of Diseases by the U.S. National Institutes of Health.» Journal of Women’s Health. 30(7):956-963. New York: Mary Ann Liebert, Inc.

Seear, Kate. 2014. The Makings of a Modern Epidemic : Endometriosis, Gender and Politics. Farnham: Ashgate.

Wiedemann, Carolin. 2021. Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats. Berlin: Matthes & Seitz. Yut-Lin, Wong. 2009. «Gender Competencies in the Medical Curriculum: Addressing Gender Bias in Medicine.» Asia Pacific Journal of Public Health 21(4): 359–376.